Dossier: Amtlich gestrichene Unterschriften

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Ohne die Bevölkerung und die Komitees zu informieren, hat die Bundeskanzlei Anfang Oktober die Regeln für die Bescheinigung von Unterschriften massiv verschärft. Zehntausende vormals korrekte Unterschriften drohen ungültig zu werden, weil Vor- und Nachnamen «von gleicher Hand» eingetragen wurden. Die Stiftung für direkte Demokratie hat die Hintergründe und und die Folgen der Praxisänderung genauer untersucht – im Austausch mit Fachpersonen und Komitees.

Die Recherche bildete die Grundlage für einen 👉🏼 offenen Brief an Bundeskanzler Viktor Rossi, in dem die sofortige Streichung der Unterschriften gefordert und der konsequente Schutz der demokratischen Rechte verlangt wird.

Dossier: Amtlich gestrichene Unterschriften für Initiativen und Referenden

In der neuen Broschüre «Stimmrechtsbescheinigung» der Bundeskanzlei vom Oktober 2025 steht im Vorwort: «Die Volksrechte bilden das Fundament unserer direkten Demokratie. Ihre Niederschwelligkeit ermöglicht es allen, die Politik aktiv mitzugestalten. […] Das korrekte Bescheinigen stärkt das Vertrauen in die direktdemokratischen Prozesse – und trägt gleichzeitig zu ihrem Schutz bei.»

Die jüngsten Anpassungen der Bescheinigungspraxis haben jedoch den gegenteiligen Effekt: Seitdem wurden Hunderte von Unterschriften, die noch vor wenigen Wochen durch die Gemeinden bescheinigt wurden, als ungültig erklärt. Die verschärften Richtlinien schränken die Ausübung politischer Rechte spürbar ein.

1. Verschärfte Bescheinigungspraxis mit gravierenden Folgen

Die Stiftung für direkte Demokratie unterstützt über die Plattform WeCollect verschiedene laufende Initiativen und Referenden bei der Unterschriftensammlung. In den letzten Wochen haben uns mehrere Komitees gemeldet, dass die Ungültigkeitsquote bei den Bescheinigungen einzelner Gemeinden plötzlich um rund fünf Prozentpunkte gestiegen ist.

Unsere Recherchen bei betroffenen Komitees zeigen: Betroffen sind Unterschriften, die von den Gemeinden mit dem Begründungscode d («von gleicher Hand») als ungültig erklärt wurden. Dieser Code wurde bisher kaum angewendet – wie etwa die uns vorliegenden Zahlen der Stadt Lausanne für 2025 belegen.

In Lausanne wurden bei zwei laufenden Initiativen mit 1’181 bzw. 1’089 eingereichten Unterschriften 336 bzw. 167 Unterschriften als ungültig bescheinigt, jedoch keine einzige aufgrund des Begründungscodes d.

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Abbildung: Statistische Auswertung der Stadt Lausanne, Bescheinigung für die Waldschutz-Initiative, 30.07.2025.

Seit wenigen Wochen handhaben zahlreiche Gemeinden die gleichen Fälle anders: Wenn eine Person die Vor- und Nachnamen anderer Unterzeichnender eingetragen hat, die anschliessend selbst handschriftlich unterschrieben haben, werden zunehmend alle Einträge mit Begründungscode d «von gleicher Hand» und damit als ungültig markiert. Teilweise wird zumindest eine Unterschrift als gültig erklärt.

Betroffen sind insbesondere Ehepaare, Familien, WG-Mitbewohner:innen oder Arbeitskolleg:innen, die seit Jahren auf diese Weise zu Hause oder im Büro Initiativen und Referenden unterzeichnen.

2. Was Stichproben zeigen

Kürzliche Stichproben von Marc Wilmes, der den Bescheinigungsprozess für mehrere Komitees begleitet, zeigen, dass es weit verbreitet ist, Vor- und Nachnamen anderer Personen auf der Liste einzutragen. Ein möglicher Grund dafür ist, dass einige Kantone abweichende Regeln für kantonale und kommunale Volksbegehren haben, die das Eintragen von Vornamen und Nachnamen weiterer Personen erlauben.



Die Stichproben zeigen, dass 4,8 bis 15,3 Prozent der Unterschriften als ungültig bescheinigt werden könnten, da Vorname und Name nicht von eigener Hand geschrieben wurden. Im Fall von Luzern, Lausanne, Köniz und Genf sind insgesamt 460 von 5’099 geprüften Unterschriften betroffen.

Typisch für die betroffenen Listen ist, dass bei 80 Prozent der Fälle zwei Personen und bei weiteren 10 Prozent drei Personen unterschreiben. Dies deutet darauf hin, dass es sich um Paare oder WG-Mitbewohner:innen handelt, die ihren Vor- und Nachnamen nicht selbst eingetragen haben.

Hochgerechnet auf aktuell laufende nationale Volksinitiativen und Referenden bedeutet dies: Zehntausende gültige Unterschriften könnten künftig gestrichen werden.

Allein Lebensmittelschutz-Initiative rechnet beispielsweise aktuell mit weit über 5'000 zusätzlichen Unterschriften, die gesammelt werden müssten, um die als ungültig bescheinigten Unterschriften auszugleichen. Somit steht ausser Zweifel, dass eine laufende Initiative oder ein Referendum trotz breiter Unterstützung wegen der neuen Bescheinigungspraxis kurz vor dem Ziel scheitern könnte.

Neben der wachsenden Unsicherheit für Bürger:innen steigen damit auch der administrative Aufwand und die Kosten für die Komitees: Sie müssten alle von Gemeinden mit dem Begründungscode d versehenen Bescheinigungen einzeln prüfen und fehlerhafte Streichungen anfechten – ein Aufwand, den kleinere zivilgesellschaftliche Komitees kaum bewältigen können.

3. Praxisänderung ohne Ankündigung

Als wir Anfang November an einer Veranstaltung Mitarbeitende der Bundeskanzlei auf diese Entwicklung ansprachen, erhielten wir die Auskunft, dass seit Anfang Oktober neue Richtlinien gelten. Diese seien mit der Publikation der neuen Broschüre mitgeteilt worden.

Dazu möchten wir festhalten: Kein einziges Komitee, mit dem wir im Austausch stehen, wurde darüber informiert – insbesondere nicht über die verschärfte Bescheinigungspraxis und deren mögliche Folgen. Erst am Montag, 10. November 2025, erhielten die Komitees eine entsprechende Mitteilung – nachdem der Tagesanzeiger eine Anfrage in der Sache gestellt hatte. Gleiches gilt für den «Runden Tisch» der Bundeskanzlei, an dem wir als Stiftung vertreten sind und der sich mit Fragen der Integrität der Unterschriftensammlung befasst.

In der Broschüre der Bundeskanzlei heisst es: «Einträge [Namen, Vornamen und Unterschrift], die offensichtlich von gleicher Hand stammen, sind grundsätzlich alle für ungültig zu erklären.» (Stimmrechtsbescheinigung 2025, S. 12)

Die Bundeskanzlei gewährt den Gemeinden einen gewissen Ermessensspielraum. Wenn die Gemeinde davon ausgeht, dass eine Person die Unterschriftenliste beispielsweise für Familienmitglieder oder Mitbewohner:innen ausgefüllt hat und zumindest eine dieser Eintragungen eigenhändig erfolgt ist, kann sie eine Unterschrift bescheinigen (ebd., S. 13, 18).

Eine Praxisänderung mit solch weitreichenden Folgen hätte zwingend öffentlich kommuniziert werden müssen – gerade im sensibelsten Bereich der Volksrechte.

4. Fragwürdige Rechtsgrundlage

Aus Sicht der Stiftung besteht für die Ungültigerklärung sämtlicher Unterstützungsbekundungen bei gleicher Handschrift keine ausreichende rechtliche Grundlage.

Wenn auf einer Unterschriftenliste mehrere Einträge (Vorname, Name) von gleicher Hand ausgefüllt sind, ist davon auszugehen, dass mindestens eine Person die gesetzlichen Anforderungen erfüllt und ihre Unterstützungsbekundung gültig ist. Diese gesamte Gruppe von Einträgen pauschal als ungültig zu erklären, ist unverhältnismässig – zumal keine konkrete Manipulationsgefahr besteht.

Die Integrität der Unterschriftensammlung wird durch solche Mehrfacheinträge nicht gefährdet. Eine vollständige Streichung aller Einträge gleicher Handschrift wäre nur dann gerechtfertigt, wenn ein konkreter Verdacht auf Manipulation oder Fälschung besteht. Ein pauschaler Verdacht genügt nicht.

Hinzu kommt, dass der von der Bundeskanzlei gewährte Ermessensspielraum für Gemeinden rechtlich nicht verbindlich ist und die politischen Rechte damit unzureichend schützt. Im Gegenteil: Komitees berichteten uns über zahlreiche Beispiele, in denen formal korrekte und eindeutig gültige Unterschriften von den Gemeinden mit dem Begründungscode d («von gleicher Hand») gestrichen wurden.

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Foto: Kontrolle einer Unterschriftenliste durch die Tessiner Gemeinde Minusio, 23. Juni 2025.

Ungültige Unterschriften mit Begründungscode d «von gleicher Hand».

Die bundesverfassungsmässig geschützte Garantie der politischen Rechte (Art. 34 BV) schützt die Unterzeichnenden bereits in dieser Phase der Unterschriftensammlung. Wer den Willen bekundet, ein Volksbegehren zu unterstützen, hat das Recht, dass diese Willensbekundung auch gezählt wird. Werden sämtliche Einträge gestrichen, wird der Wille der Unterzeichnenden übermässig eingeschränkt – solange kein Verdacht auf Manipulation oder Fälschung vorliegt.

5. Uneingelöste Informationspflicht und fehlender Vertrauensschutz

Die Bundesverwaltung hat eine Informationspflicht. Praxisänderungen, die den Vollzug der politischen Rechte betreffen, müssen in geeigneter Form kommuniziert und mit einer Übergangsfrist versehen werden – insbesondere bei laufenden Referenden und Volksinitiativen.

Da Unterschriftenlisten an verschiedenen Orten – beispielsweise auch auf bk.admin.ch – verfügbar sind, genügt eine Information ausschliesslich an Gemeinden oder Komitees nicht, um die Stimmberechtigten zu erreichen und sachgerecht zu informieren. Bei Referenden ohne offizielles Komitee ist diese Kommunikation nicht ausreichend zielführend.

Gestützt auf den verfassungsmässig garantierten Vertrauensschutz (Art. 9 BV) dürfen Bürger:innen sowie Komitees davon ausgehen, dass eine seit Jahrzehnten geübte Praxis nicht ohne triftigen Grund und im Ergebnis zum Teil rückwirkend nach der geleisteten Unterschrift geändert wird.

Aus Sicht der Stiftung für direkte Demokratie ist es nicht nachvollziehbar, dass die Bundeskanzlei keine weitergehenden Anstrengungen unternommen hat, um die Bevölkerung über diese Praxisänderung zu informieren.

Wie das Beispiel der Stadt Lausanne zeigt, wurde der Wille der Unterzeichnenden von den Gemeinden – und bis Oktober 2025 auch von der Bundeskanzlei – höher gewichtet als formale Kriterien und im Zweifel zugunsten der Stimmbürger:innen ausgelegt. Mit der neuen Richtlinie gilt nun das Gegenteil: Unterschriftenlisten mit Einträgen von gleicher Hand werden pauschal gestrichen – ohne jeden Handlungsspielraum für die Gemeinden.

6. Unterschriften-Bschiss: Den Preis zahlen Bürger:innen und Komitees

Die neuen Massnahmen stehen offensichtlich im Zusammenhang mit dem «Unterschriften-Bschiss» von 2024. Für die Stiftung für direkte Demokratie stellt sich die Frage, ob die demokratiepolitisch problematischen Verschärfungen tatsächlich dazu beitragen, die Integrität der Unterschriftensammlung zu garantieren.

Mit den von uns kritisierten Massnahmen sind vor allem jene Referenden und Initiativen betroffen, die auf kommerzielle Unterschriftensammlungen verzichten und stattdessen auf Versände per Post, lokale Netzwerke oder digitale Plattformen wie WeCollect setzen. Diese Komitees zahlen tatsächlich den Preis: Sie müssen mit höheren Ungültigkeitsquoten, mehr Aufwand und wachsender Unsicherheit umgehen.

Die Verschärfung macht die Sammlung nicht sicherer. Ob Vor- und Nachnamen eigenhändig eingetragen werden oder nicht, ist kein Hinweis auf unlautere Absichten. Wer betrügerische Motive hat, trägt weitere Personen nicht auf der gleichen, sondern auf verschiedenen Unterschriftenlisten ein. Die Gemeinde können nicht leicht erkennen, dass es sich nicht um echte Meinungsäusserungen handelt. Menschen, die auf einer Liste den Vornamen und Namen von Familienmitgliedern, WG-Mitbewohner:innen oder Bürokolleg:innen eintragen, wollen weder manipulieren noch fälschen. Die Unterstützung dieser Personen ist echt und durch die politischen Rechte geschützt.

7. Der Fall Tessin: Wahrung der Volksrechte statt Formalismus

Fragen wirft auch ein Entscheid der Bundeskanzlei kurz vor ihrer Praxisänderung auf. Wie der Tagesanzeiger berichtet, hat die Bundesskanzlei Unterschriften der Zürcher Firma Sammelplatz für gültig erklärt. Diese Unterschriften stammen alle von einem kommerziellen Tessiner Sammler. Dieser hat viele Angaben wie Vor- und Nachnamen selbst ausgefüllt. Die Bundeskanzlei hat die Unterschriften «nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip und mit Augenmass behandelt und als gültig gezählt».

Die Bundeskanzlei erklärte im Tagesanzeiger, habe sie sich in der Abwägung zwischen dem formalrechtlichen Vorgehen und der Wahrung der Volksrechte für Letzteres entschieden. Wie die Bundeskanzlei dem Tagesanzeiger mitteilte, habe sie sich bei der Abwägung zwischen dem formalrechtlichen Vorgehen und der Wahrung der Volksrechte für Letzteres entschieden.

Der Fall Tessin zeigt eindeutig, dass die Bundeskanzlei und die Gemeinden weiterhin einen rechtlichen Spielraum haben, Unterschriften, die nicht aus eigener Hand stammen, als gültig zu erklären. Die Verschärfungen der Bescheinigungen, die sich ausschließlich gegen minimale Formfehler von Bürger:innen ohne Betrugsabsichten richten, wären, um es nochmals klar festzuhalten, rein rechtlich gesehen also nicht nötig.

Wieso die Wahrung der Volksrechte im Fall eines kommerziellen Sammlers, von dem der Stiftung für direkte Demokratie bekannt ist, dass er Hunderte (!) solcher Unterschriften gesammelt hat, höher gewichtet werden als zwei oder drei Unterschriften von Familien am Küchentisch, ist eine Frage, die die Bundeskanzlei noch beantworten muss.

8. Notwendige Schritte für Vertrauen, bessere Information und Transparenz

Die Stiftung für direkte Demokratie fordert, die Verschärfungen umgehend rückgängig zu machen und Massnahmen einzuleiten. Das Ziel besteht darin, die politischen Rechte der Bürger:innen zu sichern und das Vertrauen in die direktdemokratischen Verfahren wieder zu stärken.

Marschhalt und Übergangsregelung: Die im Oktober 2025 in Kraft getretene Praxisänderung, welche Unterschriften mit dem Begründungscode d («von gleicher Hand») betrifft, ist umgehend aufzuheben. Es ist zur bisherigen, bewährten Praxis zurückzukehren.

Willenserklärung stärken: Die Richtlinie ist so anzupassen, dass bei gleicher Handschrift mindestens eine Unterschrift pro Liste gültig bleibt, sofern kein Manipulationsverdacht besteht.

Übergangsfristen: Bei zukünftigen Änderungen und insbesondere Verschärfungen der politischen Rechte ist eine Übergangsfrist von mindestens zwölf Monaten einzusetzen, um den Vertrauensschutz für Bürger:innen und Komitees sicherzustellen.

Rechtssicherheit schaffen: Künftig soll die Bundeskanzlei kleinere Praxisänderungen auf Verordnungsstufe regeln. Dabei soll sie für politische Akteure wie Parteien, Komitees, Gemeinden und Kantone Vernehmlassungen oder Anhörungen durchführen und die Ergebnisse öffentlich dokumentieren. So können sie die Tauglichkeit, Vorteile und Nachteile besser einschätzen. Bei grösseren Reformen oder Eingriffen in die politischen Rechte ist hingegen eine ordentliche Revision der Gesetzgebung notwendig.

Transparente Information: Bürger:innen haben ein Recht zu wissen, was eine gültige Unterschrift ausmacht – und wann sich die Regeln für die Ausübung politischer Rechte ändern. Die Bundeskanzlei soll künftige Praxisänderungen im nächstfolgenden Abstimmungsbüchlein erläutern sowie umgehend u.a. Medien, Parteien, Organisationen und Verbände informieren, die an Unterschriftensammlungen beteiligt sind. Zudem ist die vollständige Dokumentation der Änderungen öffentlich auf bk.admin.ch zugänglich zu machen.

Die vorliegende Recherche bildete die Grundlage für einen offenen Brief an Bundeskanzler Viktor Rossi, in dem die sofortige Streichung der Unterschriften gefordert und der konsequente Schutz der demokratischen Rechte verlangt wird.


Über die Stiftung für direkte Demokratie

Die Stiftung für direkte Demokratie fördert die politische Partizipation der Bevölkerung. Sie unterstützt Initiativen und Referenden, welche sich für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit einsetzen.

Die Stiftung gewährleistet den Betrieb der Demokratie-Plattform WeCollect und stellt für die Lancierung von Initiativen und Referenden kostenlos digitale Werkzeuge zur Verfügung.

Als erste Crowd-Stiftung der Schweiz steht die Stiftung auf den Schultern einer wachsenden Community von engagierten Bürger:innen. Sie finanzieren die laufende Projektarbeit mit Spenden.

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