Der Rechtssoziologe Tarek Naguib ist Mit-Initiator der Demokratie-Initiative. Die Initiative fordert einen Anspruch auf Einbürgerung für Personen, die seit fünf Jahren in der Schweiz leben und die objektiven Kriterien erfüllen. Wer in der Schweiz lebt, soll mitentscheiden können. Denn eine breitere politische Teilhabe stärkt unsere Demokratie. Aktuell ist jedoch ein Viertel der Bevölkerung von diesen politischen Rechten ausgeschlossen. Ziel der Initiant:innen ist eine Demokratie, die die Vielfalt der Schweiz aktiv repräsentiert, statt sie zu ignorieren. Im Interview erklärt Tarek, warum die Demokratie-Initiative für die Zukunftsfähigkeit der Schweizer Demokratie unabdingbar ist.
Interview: Suhyene Iddrisu
Demokratie-Initiative, das tönt sehr gross. Um was geht es euch genau?
Wir stellen der Schweiz die Frage: «Wie können wir unsere Demokratie demokratisieren − und aus einer 75%-Demokratie eine 100%-Demokratie machen?»
Was meinst du damit konkret?
Wir müssen anerkennen: Ein Viertel der Bevölkerung der Schweiz kann und darf nicht mitentscheiden, was mit ihr passiert − weil die Betroffenen Personen keinen Schweizer Pass haben. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das, dass in den letzten Referenden und Abstimmungen das Volksmehr statistisch bei etwa 18 bis 20 Prozent lag. Das heisst, 18 bis 20 Prozent der Menschen in der Schweiz entscheiden über den Rest der Bevölkerung!
Das scheint paradox für ein Land, das stolz ist auf seine Demokratie und seine demokratische Tradition.
Unsere Demokratie hat definitiv sehr viel Luft nach oben. 18 bis 20 Prozent, das ist nicht einmal ein Fünftel. Obwohl unser Land längst von Migration geprägt ist, wehren wir uns dagegen, dies anzuerkennen. Hinzu kommt die rassistische Ausgrenzung, die sich im Bürgerrecht manifestiert. Deshalb fordert die Demokratie-Initiative das Recht auf eine Einbürgerung nach fünf Jahren. Dabei sollen objektive Mindestkriterien massgebend sein, um die Willkür in den Verfahren zu reduzieren.
Du unterstellst der Schweiz also ein Demokratiedefizit aus?
Ja. Ich würde sogar sagen, es handelt sich um das fundamentalste Demokratiedefizit, das die Schweiz noch hat: Die Tatsache, dass sie 25 Prozent der Menschen schlicht nicht als vollwertige Bürger:innen anerkennt!
Kannst du genauer ausführen, weshalb das problematisch ist?
Diese Zahl ist so hoch, weil wir das praktisch restriktivste Einbürgerungssystem Europas haben. Es geht um Aufenthaltssicherheit, um soziale Absicherung und Zugehörigkeit − auch kulturell. Dieses Land braucht einen Kulturwandel − weg von den Etiketten "Schweizer” und “Ausländer" und hin zu einer Akzeptanz aller als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft.
«Es kann nicht sein, dass Menschen – nur weil das Land nicht bereit ist – einen Teil ihrer Identität, ihrer Geschichte oder ihrer Selbstbestimmung verleugnen oder kleiner machen müssen.»
Woher kam die Idee, das Demokratiedefizit nun auf politischem Weg anzugehen?
Der Impuls kam vom engagierten Wiler SP-Politiker und Unternehmer Arbër Bullakaj. Arbër hatte sich bei abgelehnten Einbürgerungsgesuchen stark für die Betroffenen eingesetzt und massive politische Baustellen festgestellt. Daraus entstand die Idee, ein Manifest für eine zukunftsfähige Demokratie zu formulieren.
Was war die Kernaussage dieses Manifests?
Die Schweiz braucht eine Demokratie, die auch all die Menschen mitdenkt, mitbestimmen und teilhaben lässt, die heute in irgendeiner Form diskriminiert werden. Wir wollen weg von der Haltung, dass wir dankbar sein müssen, überhaupt hier zu sein − und dadurch jegliche Rassismen und Gewalterfahrungen als selbstverständlich akzeptieren müssen.
Daraus entstand eine Initiative. War das ein logischer Schritt für euch?
Wir hatten den Mut, das Projekt gegen allen Widerstand − auch von linker Seite, hier nicht inhaltlich, sondern strategisch − anzureissen. Jetzt geht es darum, möglichst viele Menschen dafür zu gewinnen, dass wir das bis Oktober 2024 hinbekommen.
Wer ist die Trägerschaft der Initiative?
Die Demokratie-Initiative ist eine Basisbewegung und wird von mehreren hundert Leuten getragen, die sich in verschiedenen Lokalkomitees organisieren. Mittlerweile sind es 18 Lokalkomitees in der ganzen Schweiz und es werden noch weitere gegründet. Ein Teil dieser Menschen sammelt aktiv Unterschriften − darunter auch solche, die keinen Schweizer Pass haben.
Wir sind übrigens das Initiativkomitee mit den meisten Migrant:innen und BiPoC Menschen. Denn die neue Schweiz ist vielstimmig und divers.
Zum Schluss: Die Demokratie-Initiative gehört auf die Prioritätenliste der Schweiz, weil…
…sie unsere Gesellschaft gerechter, innovativer, kreativer und sogar wirtschaftlich effizienter macht. Je mehr Menschen mitbestimmen, desto widerstandsfähiger wird unsere Demokratie.
Eine repräsentative Schweiz: Die Demokratie-Initiative
Von den acht Millionen Menschen, die in der Schweiz leben, haben zwei Millionen keinen Schweizer Pass. Die Schweiz schliesst somit rund einen Viertel ihrer Bevölkerung vom Bürger:innenrecht und damit von der Demokratie aus. Dies, obwohl diese Menschen täglich zum wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben beitragen.
Nach wie vor ist es in unserem Land europaweit mit am schwierigsten, eingebürgert zu werden. Dies hat zu einem grossen Teil mit institutionellem Rassismus zu tun. Die Demokratie-Initiative fordert einen Paradigmenwechsel: Einen Anspruch auf Einbürgerung für alle, die seit fünf Jahren in der Schweiz leben und objektive Kriterien erfüllen.
Politische Partizipation und Gleichberechtigung zählen zu den Grundpfeilern der Demokratie. Es ist Zeit für eine Demokratie, in der alle Menschen, die in der Schweiz ihren Lebensmittelpunkt haben, mitentscheiden können.
Stiftung für direkte Demokratie
Die erste Crowd-Stiftung der Schweiz
Die Stiftung fördert die politische Partizipation der Bevölkerung und unterstützt zivilgesellschaftliche Projekte, welche sich für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung und Nachhaltigkeit einsetzen.
Gegründet 2020 als Stiftungsfonds unter dem Dach von Fondations des Fondateurs, gewährleistet die Stiftung den Betrieb der Demokratie-Plattform WeCollect und stellt digitale Werkzeug für die Lancierung von Initiativen und Referenden kostenlos zur Verfügung.
Als erste Crowd-Stiftung der Schweiz steht sie auf den Schultern einer wachsenden Community von engagierten Bürger:innen. Sie finanziert die laufenden Projektarbeit durch Spenden und Gönnerschaften.
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