«Demokratische Mitbestimmung ist ein Muskel, den wir trainieren müssen.»

Porträt Stiftungsrätin Lucy Koechlin von Samanta Siegfried

· Jahresbericht 2023

Wenn Lucy Koechlin an Demokratie denkt, dann nicht an parlamentarische Strukturen, Parteien oder Wahlen. Vielmehr interessiert sie sich für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. «Was mich antreibt, ist die Neugierde, zu erfahren, in welcher Art und Weise Menschen die Gesellschaft aktiv mitgestalten», sagt sie. Als Lehrbeauftragte für politische Anthropologie sowie am Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel weiss die 56-Jährige, wie unterschiedlich diese Bürgerbeteiligung weltweit aussehen kann. Sie hat in verschiedenen afrikanischen Staaten zu Themen wie Urbanisierung, Governance oder Korruption geforscht.

«Gerade in Ländern mit wenig demokratischen Strukturen gibt es oft eine unglaubliche Energie und einen grossen Einfallsreichtum, wenn es darum geht, die Gesellschaft mitzugestalten», sagt Koechlin. Für sie sei es beeindruckend mitzuerleben, wie Menschen gegen alle Widrigkeiten beispielsweise Bürger:innen-Initiativen auf die Beine stellten oder Rechenschaft von Politiker:innen verlangten. In der Schweiz stelle sie hingegen eine Behäbigkeit fest, die die Bevölkerung vergessen lässt, wie viele Möglichkeiten sie hätte.

Was es bedeutet, wenn die Schere zwischen der Politik und der Bevölkerung auseinander klaffe, könne man derzeit vielerorts auf der Welt beobachten. Zum Beispiel in England, wo sich die Bürger:innen nicht mehr von der Regierung repräsentiert und ernst genommen fühlten. Koechlin ist mit England verbunden, ihre Mutter kommt von dort, sie selbst hatte ihren Master in Development Studies in London absolviert.

Als Dozentin der Universität Basel ist sie heute nur noch unregelmässig anzutreffen. «Ich habe verschiedene Hüte an», sagt sie lachend. Zum Beispiel als Inhaberin einer kleinen Beratungsfirma, die Länder bei der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, der Korruptionsbekämpfung und der Bekämpfung der Straflosigkeit unterstützt. Hauptsächlich setze sie sich derzeit für die von ihr mitgestalteten Stiftung «Oumou Dilly» ein, die Wissen aus und über Afrika zugänglich machen will. Dabei arbeitet die Stiftung mit ausgewählten Personen und Organisationen aus afrikanischen Staaten zusammen, um dem dortigen akademischen und künstlerischen Erfahrungsschatz mehr Raum zu verschaffen.

Als Stiftungsrätin bei der Stiftung für direkte Demokratie bezeichnet sie sich selber als «bunten Hund». Schliesslich sei sie die einzige ohne Erfahrung im Schweizer Politikbetrieb. Dafür bringe sie durch ihre Forschungs- und Beratungsarbeiten einen internationalen Hintergrund mit. Wenn es nach ihr gehe, sollte ohnehin die ganze Welt in ein demokratisches System eingebunden sein. Diese Vision treibt sie mit dem von ihr mitbegründeten Verein GloCo voran, der für Global Community steht und nichts weniger will als eine direkte Mitbestimmung aller Menschen über globale Fragen. «Wir leben in einer Zeit, in der sehr viele Themen, die unsere Zukunft betreffen, global sind», sagt Koechlin. Der Klimawandel beispielsweise, oder die atomare Abrüstung. «Aber es gibt kein globales politisches System, in dem diese Fragen durch die Beteiligung von Bürger:innen ausgehandelt werden.» Die UNO sei als Organisation viel zu weit weg von den tatsächlichen Anliegen der Bevölkerung, und die Mitglieder auch nicht von ihr gewählt.

Die Schweiz könnte ein Vorbild auf nationaler Ebene sein. «In der Schweiz haben wir bereits eine Kultur der direkten Mitbestimmung.» Koechlin ist jedoch überzeugt: «Diese Mitbestimmung ist ein Muskel den wir trainieren müssen, sonst verschwindet er.» Deswegen sei für sie die Arbeit der Stiftung für direkte Demokratie essentiell. «Unsere politische Parteienlandschaft ist verkrustet.» Um das zähe System aufzulockern und mit neuen Möglichkeiten zu versehen, müsse man es wiederbeleben, wie das die Stiftung vorantreibe. «Damit sich die Gesellschaft weiterhin aktiv an Entscheidungsprozessen beteiligt.»

Stiftungsrätin Dr. Lucy Koechlin

5 Fragen an Lucy

An der Schweiz mag ich gerne, …die Lebensqualität und, klar, die Berge und Seen!

An der Schweiz stört mich, …die Selbstzufriedenheit.

Meine Forschungsreisen sind für mich …ein Raum, um auf konzentrierte Weise über Menschen und die Welt nachzudenken.

Um richtig abzuschalten brauche ich …ein gutes Buch oder einen tollen Spaziergang oder Wanderung.

Das letzte Buch das mich begeisterte (und warum) …Felwine Sarr «Die Orte, an denen meine Träume wohnen», weil schön erzählt wird, wie der Dialog zwischen unterschiedlichen Lebensentwürfen und Weltbildern sowohl ein reichhaltigeres Verständnis der Welt als auch ein sinnhaftes Leben nähren.

 

Stiftung für direkte Demokratie

Die erste Crowd-Stiftung der Schweiz

Die Stiftung fördert die politische Partizipation der Bevölkerung und unterstützt zivilgesellschaftliche Projekte, welche sich für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung und Nachhaltigkeit einsetzen.

Gegründet 2020 als Stiftungsfonds unter dem Dach von Fondations des Fondateurs, gewährleistet die Stiftung den Betrieb der Demokratie-Plattform WeCollect und stellt digitale Werkzeug für die Lancierung von Initiativen und Referenden kostenlos zur Verfügung.

Als erste Crowd-Stiftung der Schweiz steht sie auf den Schultern einer wachsenden Community von engagierten Bürger:innen. Sie finanziert die laufenden Projektarbeit durch Spenden und Gönnerschaften.

 

Newsletter abonnieren

Spenden