Demokratie stärken: Eine Skizze für einen Verfassungsartikel

Claudio Kuster und Daniel Graf

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Der Schock sitzt tief. In Europa herrscht Krieg und Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Die Schweiz steht, wie viele andere Länder, vor entscheidenden Fragen: Wie handeln wir gemeinsam und entschlossen, um Menschenrechte zu schützen und den Frieden zu sichern? Wie verhindern wir, dass Europa in ein neues Zeitalter der Abschottung und Militarisierung abgleitet?

Demokratien stehen weltweit unter hohem Druck – bedroht durch populistische Parteien und Bewegungen, die mit Fake News an die Macht drängen, Grundrechte in Frage stellen und die Gesellschaft spalten. Deshalb sind wir alle gefordert. Und wir müssen alles daran setzen, dass die Demokratie gestärkt wird. Darum skizzieren wir in diesem Blog-Beitrag einen Verfassungsartikel, der innerhalb der Stiftung für direkte Demokratie diskutiert wird.

Digitalisierung verschlafen

Wie steht es um die Schweizer Demokratie? Die Corona-Krise war zweifellos ein historischer Stresstest und hat die Schwächen unseres politischen Systems schonungslos offengelegt: Der Parlamentsbetrieb musste eingestellt, Abstimmungstermine und Gemeindeversammlungen abgesagt und die Unterschriftensammlung für Initiativen und Referenden ausgesetzt werden. Weil die Schweiz die Digitalisierung der Demokratie bisher schlicht verschlafen hat, musste der Demokratie-Betrieb fast komplett heruntergefahren werden. Zweieinhalb Jahre lief unser direktdemokratisches System nur mit angezogener Handbremse; dass in dieser Zeit nur wenige Volksinitiativen lanciert worden sind, wird sich erst in einigen Jahren an den Abstimmungssonntagen zeigen.

Der Bundesrat hat die letzten zwei Jahrzehnte einzig und allein E-Voting vorangetrieben, während alle anderen Ideen und Projekte auf die lange Bank geschoben worden sind. Deshalb stehen wir heute vor einem demokratiepolitischen Scherbenhaufen.

Ein Auftrag in der Verfassung

Die Schweiz ist heute eine Briefkasten-Demokratie: Ohne Papier, Stift und Briefmarke geht es nicht. Demgegenüber nutzen heute viele Menschen digitale Kanäle, um sich zu informieren, zu arbeiten und sich weiterzubilden, zu diskutieren und sich politisch zu beteiligen. Diese Schere zwischen dem digitalen Alltag einerseits und den analogen demokratischen Prozessen andererseits, darf nicht weiter wachsen, sondern muss geschlossen werden.

Um diese Lücke zu schliessen und die Versäumnisse nachzuholen, schlagen wir einen neuen Demokratie-Artikel in der Bundesverfassung vor. Bund und Kantone sollen zukünftig in die Pflege und die Weiterentwicklung der Demokratie investieren.

Die Bundesverfassung wird wie folgt ergänzt:

Art. 5b – Förderung der Demokratie
Bund und Kantone fördern die Demokratie und entwickeln sie weiter.

Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt ergänzt:

Art. 197 Ziff. 12 (neu)
12. Übergangsbestimmung zu Art. 5b
Bund und Kantone erstatten zweijährlich Bericht über die Förderung und Weiterentwicklung der Demokratie.

Dieser neue Verfassungsartikel adressiert sowohl den Bund als auch die Kantone; beide Staatsebenen werden beauftragt, die Demokratie einerseits zu fördern und andererseits weiterzuentwickeln. In der Schweiz sollen sich möglichst viele Menschen aktiv an der Demokratie beteiligen. Hierzu sollen insbesondere auch neue Partizipationsmöglichkeiten geprüft und bestehende Hürden gesenkt werden. Der Bund und die Kantone werden überdies beauftragt, Rechenschaft über ihre Bestrebungen zur Demokratieförderung abzulegen, indem sie hierzu zweijährlich Bericht erstatten.

Weiterentwicklung fördern, Hürden senken

Demokratie will gelernt sein. Erstaunlicherweise enthält die Bundesverfassung bereits einen Artikel, der den Bund mit der «Förderung der Demokratie» beauftragt (Art. 54 Abs. 2 BV) – jedoch nur im Ausland! Die Demokratieförderung in der Schweiz selbst ist paradoxerweise kein Thema; weder Bund noch Kantone fühlen sich dieser Aufgabe verpflichtet. Wie gezeigt, ist diese Pflege aber durchaus auch in der Schweiz notwendig. Die Einwohner:innen in der Schweiz sollen nicht nur die Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung kennen, sondern diese auch für ihre Anliegen nutzen können. Dies betrifft insbesondere die politische Bildung von jungen Menschen. Die Schulen sind der wichtigste Ort, um Wissen über unsere weltweit einzigartige Demokratie weiterzugeben.

Im Rahmen des neuen Verfassungsartikels ist die Digitalisierung der Demokratie ein wichtiges Anliegen. Dabei geht es nicht nur um eine digitale Kopie von bestehenden Prozessen wie beispielsweise das Unterschreiben von Volksinitiativen und Referenden im Internet und auf dem Smartphone. Die Digitalisierung ermöglicht überdies, die politischen Prozesse transparenter zu gestalten und die Hürden für die Partizipation zu senken. Dies unter anderem dadurch, dass es bei der Meinungsbildung auf digitalen Kanälen und der Ausübung der politischen Rechte keinen Medienbruch mehr gibt. Darüber hinaus soll es für Bürger:innen einfacher werden, sich zu informieren, politisch zu vernetzen und zu engagieren – etwa durch neue Mitwirkungsformen wie partizipative Budgets und andere Civic-Tech-Anwendungen.

Kantonale Demokratie-Laboratorien

Die Schweiz ist ein Bundesstaat und föderalistisch ausgestaltet. Nebst Bildung, Steuern und Sicherheit sind just die demokratischen Rechte ein Gebiet, das den Kantonen erhebliche Freiräume bietet (Art. 3, 39 Abs. 1, 47 und 51 BV). Die Kantone sind seit über zwei Jahrhunderten die Demokratie-Laboratorien der Schweiz und liefern seit jeher wichtige Impulse für die Weiterentwicklung des politischen Systems. So haben beispielsweise kleine Kantone wie Schaffhausen eine staatliche elektronische Identität (E-ID) bereits vor einigen Jahren eingeführt. Mit dem Demokratie-Artikel wird der föderale Demokratie-Wettbewerb gefördert. Es wäre wünschenswert, dass auf kantonaler Ebene noch mehr Pilotprojekte wie beispielsweise für E-Collecting angestossen werden. Wie auf nationaler Ebene enthält bisher keine kantonale Verfassung den Auftrag, die Demokratie zu pflegen und weiterzuentwickeln.

Längerfristig ist es nebst E-Collecting durchaus erwägenswert, dass wir etwa auf dem Smartphone auch abstimmen und wählen könnten – zumindest für Auslandschweizer:innen und Menschen mit Behinderungen. Doch es gilt dabei immer Nutzen und Risiken für die direkte Demokratie sorgfältig abzuwägen. Im Fall von E-Voting ist es wichtig, der Sicherheit die höchste Priorität einzuräumen.

Raus aus der helvetischen Komfortzone

Die Weiterentwicklung der Demokratie umfasst keineswegs nur digitale Formen der Partizipation. Ein weiterer Schwerpunkt dürfte die Frage sein, wie jüngere Menschen besser in die demokratischen Prozesse einbezogen werden können: Jugendparlamente, Jugendvorstösse, die politische Bildung und das Stimmrechtsalter 16 sind hier einige Stichworte. Sodann sollte das demokratische Instrumentarium feiner abgestuft werden: Zwischen der simplen Petition und der Volksinitiative auf Verfassungsrevision klafft – gerade auf nationaler Ebene – eine riesige partizipative Lücke. Auch der Miteinbezug breiterer Kreise wie der niedergelassenen ausländischen Bevölkerung auf lokaler Ebene ist diskussionswürdig, ebenso wie deliberative Versammlungen. Das Öffentlichkeitsprinzip und eine transparente Politikfinanzierung sollten umfassend gelten.

Der vorgestellte Verfassungsartikel beschränkt sich nicht auf die direkte Demokratie, die zu fördern sei. Die Bürger:innen sollen sich zwar – entsprechend dem hiesigen Demokratie-Verständnis als direkte Volksherrschaft – grundsätzlich möglichst direkt und unmittelbar einbringen können. Umgekehrt soll aber keineswegs das Repräsentationsprinzip und der Parlamentarismus infrage gestellt werden. Der Auftrag adressiert also auch die Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie, ohne die letztlich eine Direktdemokratie gar nicht auskommt. Auch die Bundesversammlung, Kantonsparlamente und Kommissionen sollen also – wie einleitend festgestellt – ihre Prozesse überdenken und aktualisieren.

Mit dem Demokratie-Artikel soll ein Weg aus der helvetischen Komfortzone aufgezeigt werden. Damit ist das hierzulande verbreitete Gefühl gemeint, dass unsere Demokratie gut sei, wie sie ist und wir nichts für den Fortbestand tun müssten. Der Covid-Shutdown hat eindrücklich aufgezeigt, dass Nichts-Tun keine Lösung, sondern ein Risikofaktor ist.

Dieser Artikel ist eine aktualisierte Version des Blog-Beitrages «Die Demokratie gehört auch in der Schweiz gefördert», der im Mai 2020 veröffentlicht wurde. Claudio Kuster und Daniel Graf sind Stiftungsräte der Stiftung für direkte Demokratie und haben beide mehrere Volksinitiativen mitlanciert.


Die erste Crowd-Stiftung der Schweiz

Die Stiftung für direkte Demokratie fördert die politische Partizipation der Bevölkerung. Sie unterstützt Initiativen und Referenden, welche sich für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit einsetzen.

Die Stiftung gewährleistet den Betrieb der Demokratie-Plattform WeCollect.ch und stellt für die Lancierung von Initiativen und Referenden kostenlos digitale Werkzeuge zur Verfügung. Als erste Crowd-Stiftung der Schweiz steht die Stiftung auf den Schultern einer wachsenden Community von engagierten Bürger:innen. Sie finanzieren die laufende Projektarbeit mit Spenden. www.demokratie.ch

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