Amtlich gestrichen: Warum die Unterschrift von Paul H. (86) plötzlich nicht mehr zählt

· News

Der Fall, der mich in den letzten Tagen im Bundeshaus beschäftigt hat, zeigt exemplarisch, welche Folgen die seit dem 1. November geltende Verschärfung der Stimmrechtsbescheinigung hat – leise, aber einschneidend, besonders für ältere Menschen und ihre politische Teilhabe im Alltag.

Im Bundeshaus musste ich in den letzten Tagen immer wieder an Paul H. denken. Sein Name standen auf einer Unterschriftenliste für die Solar-Initiative, für die wir auf der Plattform WeCollect Unterschriften gesammelt haben. Auf demselben Blatt hatten auch drei weitere Personen der Familie H. unterschrieben – dem Geburtsjahr nach wohl Pauls Ehefrau und zwei ihrer Kinder.

Aufgefallen ist mir dieser Unterschriftenbogen wegen eines kleinen Buchstabens, der mich in den letzten Wochen sehr beschäftigt. Denn Paul H. wurde amtlich gestrichen.

Ein Buchstabe mit Folgen

Im Kontrollfeld am rechten Rand – gleich neben seiner Unterschrift – hatte die Gemeinde ein kleines «d» auf dem Unterschriftenbogen gesetzt. Das heisst: Diese Unterschrift zählt nicht. Oder genauer gesagt: Sie zählt nicht mehr.

Section image

Die Geschichte von Paul H. ist kein Einzelfall. In den letzten Wochen erging es Hunderten, vielleicht Tausenden stimmberechtigten Personen in der ganzen Schweiz ähnlich. Obwohl alle Angaben korrekt waren und die Unterschrift eigenhändig erfolgte, erklärten Gemeinden diese Unterschriften für ungültig.

Im konkreten Fall fiel der Entscheid am 28. November, wie der Stempel auf dem Unterschriftenbogen zeigt. Paul H. selbst hat davon nichts erfahren. Die Gemeinde schickte die Liste – wie üblich – an das Initiativkomitee zurück.

Eine Regeländerung ohne Ankündigung

Paul H. hatte schlicht Pech. Hätte er ein paar Wochen früher unterschrieben, wäre seine Unterschrift gültig gewesen. Denn die Bundeskanzlei hat per 1. November 2025 die Regeln für die sogenannte Stimmrechtsbescheinigung verschärft – ohne grosse Ankündigung und zur Überraschung vieler Komitees, die Unterschriften sammeln und plötzlich eine markante Zunahme ungültiger Unterschriften registrierten.

Seither gilt schweizweit die Weisung, Unterschriften nur noch dann als gültig zu betrachten, wenn Vor- und Nachname von jeder Person «von eigener Hand» eingetragen sind.

Begründet wird diese Verschärfung mit dem sogenannten «Unterschriften-Bschiss». Mit einer strikten Anwendung des Gesetzes wolle man Fälschungen verhindern, erklärte die Bundeskanzlei gegenüber SRF. Damit werde das bestehende Gesetz über die politischen Rechte nun konsequent umgesetzt – nach Jahren faktischer Nichtanwendung.

Ein Gesetz, das jahrelang kaum beachtet wurde

Hat Paul H. also einen Fehler gemacht? Nein. Tatsächlich schreibt das Gesetz bereits seit 2015 vor, dass Vor- und Nachname handschriftlich einzutragen sind. Doch über Jahre blieb diese Regel faktisch folgenlos. Die Bundeskanzlei selbst räumte gegenüber SRF ein, dass sie «nicht immer befolgt» worden sei.

Mehr noch: Der Code «d», der zur Streichung von Paul H. führte, war auf kontrollierten Unterschriftenbögen äusserst selten. Wer Tausende von Unterschriftenlisten durchsah, musste lange suchen, um einen solchen Fall zu finden.

Section image

Lesen Sie jetzt unser

Dossier «Amtlich gestrichen» und erfahren Sie mehr über die verschärfte Bescheinigungspraxis, die wie im Fall von Paul H. zur Streichung von Unterschriften geführt hat.

Ein Familie – eine gültig Unterschrift

Die neue Praxis trifft nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Haushalte. Werden die Personalien mehrerer Personen von derselben Hand eingetragen, gelten grundsätzlich alle Unterschriften als ungültig – selbst dann, wenn alle eigenhändig unterschrieben haben.

Die Gemeinden haben dabei einen gewissen Spielraum: Erkennen sie einen Familien- oder Haushaltskontext, dürfen sie immerhin eine Unterschrift als gültig zählen. So steht es in der neusten Broschüre «Stimmrechtsbescheinigung» der Bundeskanzlei.

Im Fall der Familie H. wurde dieser Spielraum genutzt. Von ursprünglich vier Unterschriften – von Paul H., seiner Ehefrau und den beiden Kindern – blieb am Ende nur die erste auf der Liste gültig.

Assistenz für ältere Menschen

Als ich den Unterschriftenbogen der Familie H. genauer betrachtete, wurde mir klar, weshalb wohl ein Familienmitglied die Angaben eingetragen hatte. Seine Wohnadresse unterschied sich von jener seiner Familie. Paul H. lebt heute in einem Wohn- und Pflegezentrum für Senior:innen, nur zehn Gehminuten von seinem früheren Zuhause entfernt.

Viele der von Streichungen Betroffenen dürften so alt wie Paul H. sein. Menschen, denen das Ausfüllen von Formularen schwerfällt – wegen nachlassender Sehkraft, zittriger Hände oder schlicht fehlender Routine. In solchen Fällen ist es Alltag, dass Angehörige helfen und Personalien eintragen. Nicht aus Bequemlichkeit oder Betrugsabsicht – sondern damit die betroffenen Personen ihre politischen Rechte überhaupt ausüben können.

Regeln, die kaum jemand kennt

Paul H. dürfte sich kaum als «schreibunfähige Person» betrachten. Für diese Gruppe existiert im Leitfaden der Bundeskanzlei eine Sonderregel: Eine Hilfsperson darf alle Angaben auf einer Unterschriftenliste stellvertretend ausfüllen und mit dem Zusatz «im Auftrag» unterzeichnen. Diese Regel ist im neuen Leitfaden für Gemeinden festgehalten.

Sie war jedoch kaum jemandem im Bundeshaus, den ich darauf angesprochen habe, bekannt. In der Bevölkerung dürfte es kaum anders sein.

Alltag statt Einzelfall

Wie viele Menschen wie Paul H. gibt es in der Schweiz? Mehr, als viele vermuten würden. Laut offizieller Statistik gelten rund 1,9 Millionen Menschen als Menschen mit Behinderungen. Dazu zählen auch ältere Personen, die im Alltag auf Unterstützung angewiesen sind.

In der Wandelhalle sprach ich darüber mit Nationalrat Islam Alijaj, dem ersten Politiker im Bundeshaus mit Cerebralparese und einer der treibenden Kräfte hinter der Inklusionsinitiative. Er kennt solche Situationen aus eigener Erfahrung. Sein Bruder habe bei Formularen jeweils die Angaben eingetragen, auch bei Initiativen und Referenden. Er selbst habe jeweils nur unterschrieben, da es für ihn schwierig sei, gut leserlich zu schreiben – insbesondere auf dem knappen Platz eines Unterschriftenbogens.

Seine eigenhändige Unterschrift sei ihm dennoch wichtig, sagte Alijaj. Sie sei Ausdruck seines politischen Willens. Solche Unterstützung sei Alltag – überall dort, wo Menschen mit Behinderungen leben, arbeiten oder wohnen.

Vorstösse im Parlament

Kurz darauf stiess Ständerätin Marianne Binder-Keller dazu. Sie wollte mehr wissen über die neuen Regeln der Bundeskanzlei und vor allem über deren Folgen – auch, weil sie selbst regelmässig Unterschriften sammelt. Die Erfahrungen ihres Ratskollegen Alijaj wie auch die Geschichte von Paul H. gaben ihr zu denken. Wenige Tage später reichte sie eine Motion im Ständerat ein.

Auch Nationalrat Balthasar Glättli lancierte eine Motion. Unterstützt wurde er von Jean-Luc Addor, Islam Alijaj, Franz Grüter, Greta Gysin Greta, Marc Jost, Delphine Klopfenstein Broggini, Nicolò Paganini, Gregor Rutz und Barbara Steinemann. Mehrere Parlamentarier:innen stellten der Bundeskanzlei in der Fragestunde kritische Fragen und reichten Interpellationen ein.

Noch ist nichts gelöst

Trotz dieses parteiübergreifenden Engagements ist das Problem noch längst nicht gelöst. Stimmberechtigte Personen wie Paul H. und ihre Familien werden von den Gemeinden oder bei der Schlusskontrolle durch die Bundeskanzlei weiterhin gestrichen.

Damit sich Bundesrat und Bundeskanzlei bewegen, braucht es mehr: belastbare Zahlen, persönliche Geschichten – und möglicherweise auch juristische Schritte.

Die direkte Demokratie lebt nicht von Regeln auf dem Papier. Sie lebt davon, dass Menschen ihre Rechte im Alltag tatsächlich ausüben können.

* Hinweis: Alle persönlichen und biografischen Angaben zu Paul H. und seiner Familie sind aus Persönlichkeitsschutzgründen anonymisiert.

In eigener Sache

Für unsere Arbeit im Bundeshaus sind wir auf Spenden angewiesen. Wirksames Lobbying braucht Zeit, Vorbereitung und Ausdauer. Vielen Dank für Ihre Unterstützung.

Dieser Artikel ist Teil einer grösseren Recherche zur verschärften Bescheinigungspraxis der Bundeskanzlei und zur Steichung von Unterschriften für Initiativen und Referenden. In einem offenen Brief an Bundeskanzler Viktor Rossi wird die sofortige Streichung der Unterschriften gefordert und der konsequente Schutz der demokratischen Rechte verlangt. Den Brief haben bereits über 10 000 Personen unterzeichnet.

Section image


Über die Stiftung für direkte Demokratie

Die Stiftung für direkte Demokratie fördert die politische Partizipation der Bevölkerung. Sie unterstützt Initiativen und Referenden, welche sich für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit einsetzen.

Die Stiftung gewährleistet den Betrieb der Demokratie-Plattform WeCollect und stellt für die Lancierung von Initiativen und Referenden kostenlos digitale Werkzeuge zur Verfügung.

Als erste Crowd-Stiftung der Schweiz steht die Stiftung auf den Schultern einer wachsenden Community von engagierten Bürger:innen. Sie finanzieren die laufende Projektarbeit mit Spenden.

Newsletter abonnieren

Spenden